104 Fragen für die RB Forschung – Zwei Medizinerinnen entwickeln Umfrage zu Therapielast

Datum: 01.12.2023 | Kategorie(n): News

Zwei Medizinerinnen entwickeln Umfrage zu Therapielast  und Organisation der Behandlung

„Im ersten Moment habe ich an das Kind gedacht, an die Eltern und Geschwister“, sagt Leonie Mahrenholtz. Die Kinder seien ja extrem jung. Erst der zweite Gedanke galt einer Therapie. Und ihre Kommilitonin Maresa Klingertergänzt: „Ich musste daran denken, wie groß dieser Einschnitt für die Familien ist.“ Schließlich handele es sich um eine schwerwiegende Diagnose, die in der Folge auch den Verlust eines Auges oder des Augenlichts bedeuten könne. Das habe sie sehr berührt. 

Hausarbeit über Retinoblastom

Die KAKS im Gespräch mit Leonie Mahrenholtz und MaresaKlingert. Die beiden Frauen sind 25 Jahre, studieren im siebten Semester Medizin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Leonie hat zuvor eine Ausbildung zur Augenoptikerin absolviert, Maresa ist staatlich geprüfte Krankenpflegerin. Im Rahmen ihres ersten Staatsexamens haben sie sich bei der Kinder- und Jugendärztin Madlen Reschke um das Thema ihrer Hausarbeit beworben. Durch die intensiven Gesprächemit Reschke, Medizinerin an der renommierten Charité, haben die beiden nicht nur erstmals von der seltenen Erkrankung Retinoblastom gehört, sie haben sich auch bewusst für das Thema Retinoblastom entschieden. Krebs im Auge des Kindes – darüber wussten sie wenig. Informationen über die Erkrankung, ihre Sichtbarkeit, Diagnose, über den zeitnahen Therapieeinsatz und Heilungschancen haben sie in der entsprechenden Literatur gefunden und kuratiert. Mindestens so wichtig – die vielen Gespräche mit Reschke und den Fachärzten und –ärztinnen in der Klinik für Kinderaugenheilkunde an der Charité. 

Therapie für die Eltern belastender als für die Kinder

Ihr Ziel war es, einen Fragebogen zu erstellen, der die Therapielast von Kindern und Eltern dokumentiert, ebenso den Verbesserungsbedarf in der Organisation und Ideen zur Optimierung liefert. 104 Fragen haben die Studentinnen entwickelt, acht offene, die übrigen Multiple Choice. Ihre Adressaten: Eltern erkrankter Kinder. Eine halbe Stunde, mehr braucht es nicht, um den Fragebogen auszufüllen. „31 Eltern haben mitgemacht“, sagt Leonie Mahrenholtz. Damit seien sie unter ihrer Zielmarke von 40 geblieben. Von den 59 Familien, deren Kinder aktuell an der Charité in Behandlung oder Nachsorge sind, hätten sie 46 erreicht. Dennoch werten sie die finale Teilnehmerinnenzahl als positiv. „Viele Eltern haben sich die Zeit genommen, unsere Fragen zu bearbeiten, besonders im offenen Teil gab es ausführliche Antworten.“  Zwei Drittel der Studienteilnehmer und -Teilnehmerinnen waren Mütter, ein Drittel Väter.

Trennung vom Kind ist ein kritischer Moment

Als „teils belastend“ oder „relativ belastend“ bewerten die befragten Eltern die Belastung für Ihr Kind. Die Eltern selbst bewerten die Therapie für sich mit eher bis sehr belastend während der akuten Phase. Maresa Klingert dazu: „Was die hohe Belastung ausmacht, war zunächst nicht greifbar“, da es kaum Nebenwirkungen, abgesehen von Übelkeit bei den Kindern, gebe und die Zeit des Klinikaufenthaltes eher gering sei. Doch ein Viertel der kleinen Patienten und Patientinnen müssen eine Enukleation des Auges über sich ergehen lassen, zwei Drittel eine intraarterielle und systemische Chemo. Leonie Mahrenholtz: „Das Gefühl, mit dem die Eltern die Klinik verlassen, ist, dass sie die Phase als deutlich belastender empfinden als ihre Kinder.“ Der Blick dahinter macht es jedoch greifbar. Leonie Mahrenholtz ergänzt: „Gerade die Zeit der intensiven Phase und der ersten Nachsorge ist für die Eltern sehr belastend. Hierzu zählen Wartezeiten in der Klinik von sechs bis acht Stunden. Und die für die Untersuchungen unerlässliche Narkose des Kindes; also der Moment, in dem die Eltern ihr Kind verlassen müssen. „Die Trennung vom Kind ist für die Eltern einer der kritischsten Momente“, sagt Maresa. 

Eltern lassen sich krankschreiben

Zum emotionalen Druck kommt zudem der soziale hinzu. Denn für die Mütter und Väter bedeutet die erste Phase der Nachsorge, sich familiär und im Job zu organisieren. 

Maresa Klingert: „Rund 50 Prozent der Eltern lassen sich arbeitsunfähig schreiben. Aus Sorge vor Kündigung.“ Diegrößere existentielle Sorge, ob das eigene Kind verstirbt oder erblindet, ist zu diesem Zeitpunkt nicht einmal psychologisch verarbeitet. Diverse Härten kommen in dieser Phase der Therapie zusammen. Denn da, so die beiden Medizinerinnen, sei ja auch noch die Sorge vor einem Rezidiv. Auch das wird in der Umfrage deutlich.

Und trotz größter Ängste und maximaler Belastung geben die Eltern für die intensive Phase und die Zeit danach auch gute Momente an. „Die meisten waren positiv“, sagt Leonie, „gerade im offenen Teil der Umfrage nutzen sie die Möglichkeit auch das herauszustellen: Die Familie sei enger zusammengerückt, am Ende sei alles gut, im Schrecklichen gebe es was Positives.

Ran an die strukturellen Probleme

Was also ist die Bilanz, die Erkenntnis ihrer Umfrage? Für Maresa Klingert steht fest: „Es sind Probleme struktureller Abläufe. Wartezeiten verringern, das kann man angehen.“ Allerdings, das weiß auch die angehende Ärztin, ist genau das im Alltag eines wirtschaftlichen Systems wie einer Klinik die größte Herausforderung. Trotz Terminierung kann halt immer was dazwischenkommen. Und es kommt immer was dazwischen: Das Unvorhergesehene, der Notfall- und der personelle Engpass. Eltern beklagten in der Umfrage einen Mangel an Pflegepersonal; gerade Pfleger und Pflegerinnen seien für sie wichtige Ansprechpartner. Doch der Fachkräftemangel in Deutschland ist auch an den Kliniken zu spüren. Und die Pflegerinnen, die da sind, haben oft wenig Zeit.

Ein Problem, das politisch zu lösen ist. Aber bessere Ruheräume, eine kinderfreundliche Umgebung, Stofftiere, mit denen die Kinder die Narkose und das Trennen von den Eltern spielen könnten, ein erweitertes psychologisches Angebot für die Familien: All das müsste umzusetzen zu sein. Davon gehen die Medizinstudentinnen aus. Ihre Hoffnung: Dass die von ihnen erhobenen Daten „etwas ändern“. Konkrete Konzepte, so Maresa, müssten daraus entwickelt werden. Und Leonie ergänzt: „Es ist alles bekannt, aber wenn es geschrieben steht …“

(Anmerkung der KAKS: Zum Zeitpunkt des Gespräches mit der KAKS steht die Benotung der Hausarbeit zum Retinoblastom noch aus. Wir wünschen Leonie Mahrenholtzund Maresa Klingert ein erfolgreich absolviertes erstes Staatsexamen und für den weiteren Weg alles Gute.) 

01.12.2023 | News