“Ich möchte dieses Lachen nicht verlieren” – eine Mutter über die RB Erkrankung ihres Sohnes

Datum: 28.12.2018 | Kategorie(n): Stories

„Hol ihn ab. Und komm her.“ Die Worte der Augenärztin am Telefon sind unmissverständlich. Also holt sie ihren Sohn in der Kita ab. Bringt ihn in die Praxis der niedergelassenen Augenärztin. Bringt ihn auf deren Anraten sofort in die Uni-Klinik Erlangen – und erfährt hier nur eine Stunde später, was keine Mutter der Welt jemals hören möchte: „Ihr Sohn hat Krebs.“ Vor einer Stunde hat er doch noch gespielt, draußen in der Kita. Wie kann er jetzt Krebs haben? Retinoblastom! Davon hat sie noch nie gehört. Es ist der 1. August 2017. Das Datum wird Carolin niemals vergessen. Es ist der Tag, der ihr Leben verändert – und vor allem das ihres Sohnes Henry. Es liegen schwere Zeiten vor der Familie. Unsichere Zeiten. Mit vielen Fragen. Und noch mehr Ängsten. Eltern, deren Kinder eine Krebserkrankung haben, verstehen und fühlen, was Carolin fühlt. Alle anderen können teilnahmsvoll sein, zuhören, helfen. Augenhöhe haben sie nicht. Auch das wird Carolin in den nächsten Monaten erfahren.

ETWAS KOMISCHES, ETWAS HELLES IN HENRYS AUGE

Die KAKS möchte mehr über Carolin, über Henry und die Familie erfahren. Wie kam es zur Diagnose bei Henry? Welche Anzeichen gab es? Wer hat sie entdeckt? Wir verabreden uns zu einem langen, vertrauensvollen Gespräch. Das wir auf- schreiben. Für Carolin. Für Henry. Und für so viele Familien, deren Kinder „diesen verdammten Krebs“ hatten. Oder haben. Auch für sie ist diese Geschichte. Sie soll ihnen Hoffnung geben und das Vertrauen, dass ein Leben nach der Krebserkrankung und -therapie möglich ist. So ein normales Leben eben. Obwohl es immer das Leben davor und das Leben danach geben wird. Diese Einteilung machen so viele Eltern betroffener Kinder. Denn der Einschnitt ist da, gräbt sich tief in die Seele der Mütter und Väter ein. Mal quält er, mal tut er es nicht. Aber er ist immer da. Auch bei Carolin. Das wird in unserem Gespräch mit ihr deutlich. Das sagt sie auch selbst.

Carolin ist eine sympathische Frau. Mit einer schönen, warmen Stimme, ohne fränkischen Akzent. Sie ist 42 Jahre alt. Angestellte einer deutschen Airline. Verhei- ratet mit Dirk, einem Berufsmusiker. Das Paar lebt in Nürnberg, hat zwei Söhne. Henry, heute vier, und Nick, sieben Jahre. „Ziemlich genau vor einem Jahr“, erzählt Carolin gleich zu Beginn des Gespräches, habe sie etwas Komisches in Henrys Auge gesehen. Sie erinnert sich an einen Post auf Facebook, in dem es um Auffäl- ligkeiten im Auge des Kindes ging. Es bleibt zunächst bei der schwachen Erinnerung. Doch als sie kaum eine Woche später wieder „etwas Helles“ im Auge ihres jüngsten Sohnes sieht, greift sie zum Smartphone, macht ein Foto von Henry und schickt es jener befreun- deten Augenärztin. Die meldet sich umgehend: „Hol ihn ab und komm her.“ Es dauert nicht lange und Carolin und Henry sitzen in der Praxis der Freundin. Und schnell wird klar: Sie dürfen keine Zeit mehr verlieren. Henry ist auf dem rechten Auge blind. Die Netzhaut des Auges löst sich ab. Blind? Ablösung der Netzhaut? In Carolins Kopf schwirren die Gedanken. Was hat das alles zu bedeuten? Es ist gerade mal ein halbes Jahr her, dass sie mit Henry genau in dieser Praxis war. Eine Routineuntersuchung. Bei der es keine Auffälligkeiten gab. Hier bekommt Henry lediglich seine Brille. Und jetzt das. Die Ärzte sagen den Eltern später, dass diese rasche Entwicklung und Veränderung im Auge eines Kindes durchaus möglich sein kann.

Die Eltern fahren in die Uni-Klinik nach Erlangen. Die Ärzte hier brauchen keine Stunde, um Carolin und Dirk folgendes zu sagen: Henry hat ein Retinoblastom. Ein unilaterales. Sein rechtes Auge wird nicht zu retten sein. Machen Sie sich bitte keine Hoffnungen. Wir operieren nicht mehr. Sie müssen mit dem Kind nach Nordrhein-Westfalen, in die Uni-Klinik Essen.

ICH WOLLTE DEN TUMOR AUS MEINEM KIND RAUSHABEN

Sätze wie Schläge. Doch Zeit, sie als höllischen Schmerz zu empfinden oder als furchtbare Ohnmacht, bleibt nicht. Carolin wird uns im Verlauf des Gespräches noch von den Problemen, die sich nach Henrys Genesung aufgetan haben, erzählen. Sehr offen. Über diese ersten Stunden, Tage, Wochen aber sagt sie: „In der Hochphase habe ich gut funktioniert.“

Mit dem Kind, das weiterhin ein fröhliches ist, fahren Carolin und Dirk also nach Essen. Die Ärzte bestätigen die Diagnose. Machen diverse Untersuchungen, darun- ter ein MRT. Und legen den Operationstermin auf eine Woche später fest. Wie Carolin die Woche bis zur OP

zu Hause überstanden hat, weiß sie heute nicht mehr. Nur so viel: „Es war fürchterlich. Ich wollte einfach nur diesen Tumor aus meinem Kind raushaben.“ Henry lacht viel in dieser Woche, in der seine Eltern auf den Termin warten. Und er lacht, wie man so sagt, über‘s ganze Gesicht. Er weiß, dass er krank ist und dass die Ärzte ihm helfen werden. Mehr nicht. Also kein Grund nicht zu lachen. Für den kleinen Mann. Für seine Mut- ter ist diese Unbekümmertheit alles: „Ich wollte dieses Lachen nicht verlieren. Ich fühlte, dass es um das Leben meines Kindes ging.“ Deshalb sollte alles schnell gehen. Schnell. Schnell. Sie wiederholt das Wort wirklich mehrfach.

Am Freitag, den 11. August 2017, entfernen die Ärzte in Essen in einer mehrstündigen Operation Henrys rech- tes Auge. Und damit den Tumor. Den Krebs, den die Mutter „aus ihrem Kind“ haben wollte. Henry bekommt nach der OP weder eine Chemotherapie noch eine Bestrahlung. Nur zwei Tage später, am Sonntag, reist die Familie wieder nach Hause. Die Nachsorge erfolgt in unterschiedlichen Intervallen; nach sechs Wochen, nach drei Monaten, nach fünf Monaten. Wie Henrys Augenhöhle zu cremen ist, das zeigen die Schwestern Carolin und Dirk in Essen. „Das kann ich nicht“, klagt die Mutter zunächst. Vielleicht aus Angst ihrem Kind weh zu tun. Vielleicht aus Scheu. Vielleicht aus Überforderung. „Doch das können Sie“, lautet die Antwort kurz. Mehr wird der Familie nicht mit auf den Weg gegeben.

PANISCHE ANGST UM DIE KINDER

Learning by doing! Das ist die Schule. Und das ist die große Herausforderung in den ersten Wochen nach der Operation. Mehrfach fällt die sogenannte Schale aus der Augenhöhle des Dreijährigen. Die wieder einzusetzen ist zumindest beim ersten Mal alles andere als trivial. Per Telefon leitet Henrys Augenärztin Carolin an. Die Augenprothese dürfen die Eltern in den ersten Wochen erst gar nicht rausnehmen oder einsetzen. Das darf nur die Augenärztin machen. Henry wünscht das so. „Natürlich haben wir versucht, ihn zu bestechen“, lächelt Carolin. Selbst die Details kommen in diesen Tagen ins Gedächtnis zurück. „Jetzt, da es sich jährt, kommt alles hoch“, sagt Carolin leise. Wie die im- mer gleichen, quälenden Fragen: Hätte ich es bemerken müssen? Warum habe ich es nicht bemerkt? „Es gab eine Phase, da hat Henry begonnen mich zu hassen.“ Das muss eine Mutter erst mal verstehen. Verkraften. Und lösen. Hilfe findet Carolin im Netz, knüpft Kontakt zu einer Mutter, deren Sohn so alt wie Henry ist. Amir hat sein Auge zwei Jahre zuvor durch den Krebs verloren. In dem Jungen erkennt der kleine Henry, dass er nicht der einzige ist, „der so was hat“. Das scheint ihm gut zu tun. Die Aggressionen gegen die Mutter hören auf. Natürlich wollen Carolin und Dirk ihre Söhne und vor allem Henry „ganz normal“ erziehen. „Ihn zu schimpfen muss ja manchmal sein“, sagt Carolin, „doch es fällt mir schwer.“

Henrys Bruder Nick und die beiden Cousinen gehen mit großer Natürlichkeit und gerade Nick mit viel Liebe auf Henry ein. Doch auch ein Siebenjähriger kommt an seine Grenzen – und auf Gedanken, die einem Erwach- senen so niemals in den Sinn kommen würden. „Henry hat etwas Besonderes. Und ich nicht“, klagt er gegenüber Carolin einmal. Wir erzählen Carolin von den Workshops speziell für Geschwister, die die Kinderaugenkrebsstiftung bei ihren RB-Treffen mittlerweile anbietet. Und die von vielen Kindern und Jugendlichen angenommen werden. Wer weiß, vielleicht sitzt Nick schon beim nächsten Treffen in einem solchen Seminar zusammen mit vielen anderen Geschwistern, denen es so geht wie ihm.

Carolin jedenfalls geht es Monate nach Henrys Operation nicht gut. Sie entwickelt auf einmal eine Angststörung. Es gefällt uns, wie offen und reflektiert sie darüber spricht: „Das tiefe Loch kam. Ich hatte plötzlich panische Angst um meine Kinder.“ Sie geht in eine Tagesklinik. Acht Wochen. Beginnt eine Verhaltenstherapie. Und kommt gestärkt zurück. In die Familie. An ihren Arbeitsplatz am Nürnberger Flughafen. Dirk hält ihr in der Zeit der Therapie den Rücken frei. Auch ihre Schwester ist eine große Stütze. Auch Freunde des Paares, obwohl es unter manchen auch die Haltung gibt, dass es mit der Operation des Kindes „doch jetzt vorbei“ und „alles wieder gut“ sei.

Auch dass sie den Weg zur Kinderaugenkrebsstiftung findet, ist für Carolin eine Erleichterung. Hier gibt es Antworten. Gleichgesinnte. Versteher. Mutmacher. Wir lachen sehr als sie erzählt, wie der Kontakt zur Stiftung zustande gekommen ist: „Der Freund meines Schwagers hat eine Freundin und die ist die Schwester einer Freundin ….“ Der Kontakt ist jetzt da und das ist gut.

Henry geht bereits kurz nach der Operation wieder in seine Kita. „Die Erzieherinnen dort sind toll“, sagt Carolin. Bessere könnten sie sich nicht wünschen. Beide besuchen ein Blinden- und Sehbehinderteninstitut in der Stadt und informieren sich umfassend. Für Henry. Der sei, so Carolin, ein ganz normaler, aufgeweckter Junge. Auch in der Kita. Carolin sieht jedoch auch, dass ihr jüngerer Sohn Neuem gegenüber ängstlich ist. „Er erschrickt sehr schnell“, sagt sie. Turnen möge er nicht, Fußball spiele er nur zu Hause.

DIE ANGST VOR DEM BÖSEN WORT KREBS

Sylt – kommt da wie gerufen. „Nicht zu früh, nicht zu spät“, meint Carolin. „Sylt war super.“ An der Nordsee macht die Familie im April dieses Jahres eine Reha. Die tut allen vier gut. Die geht in die Tiefe. Zumindest für Carolin. Hier lernt sie ihre Angst „vor dem bösen Wort Krebs“ abzulegen. Erst im Verlauf unseres einstündigen Gespräches sagt sie das Wort. Wahrscheinlich ist es ihr nicht bewusst. Bevor Carolin und Dirk nach Sylt fahren, müssen sie ihren Jungen die volle Wahrheit sagen. Denn bis dato wissen Nick und Henry nur, dass Henry krank war und in Essen operiert werden musste. Krebs – das haben sie den Kindern nicht gesagt. Aber jetzt müssen sie. Nick ist erschrocken. Er weiß, dass die Oma an Krebs gestorben ist. Muss Henry jetzt auch sterben? Carolin und Dirk können den Jungen die Angst, die sie ja selbst seit Monaten begleitet, nehmen. Man stirbt nicht an jedem Krebs. Daran halten sie fest. Sylt kann also kommen. Und die Zeit in der Klinik, an der See – sie wird ein Erfolg. Vielleicht ist das Wort in diesem Zusammenhang merkwürdig. Doch wir hören Carolin zu, wie sie schwärmt: Von den Familien, die sie kennenlernen. Von den Freundschaften, die sie schließen. Von den guten Gesprächen, die sie führen mit den anderen Eltern Krebs erkrankter Kinder – manche von ihnen noch in der Therapie. Von den Ausflügen. Und von den Frauen- und Männerabenden, die so herrlich frei sind von Krankheit und Angst. Und vom Gitarrenspiel ihres Mannes am Sylter Strand.

 

Dirk habe, sagt Carolin, die schlimme Zeit noch nicht in seiner Musik verarbeitet. Wie man sich das bei einem Berufsmusiker vielleicht vorstellt. Ihr Mann habe aber mit den anderen Vätern auf Sylt gute, persönliche Männergespräche gehabt. Das weiß sie. „Für die Männer war es auch etwas besonderes.“ Alle in der Familie zehren noch von dieser Erfahrung. Dirk, Carolin, Nick und Henry. Die Eltern haben das nächste RB-Treffen in Düsseldorf als festen Termin in ihrem Kalender stehen. Sie freuen sich auf das Treffen, die Begegnung mit den anderen Familien und den Mutmachern unserer Stiftung.

„Es muss nicht immer das Schlimmste bedeuten“, sagt Carolin. Mit dem Blick zurück auf die vergangenen zwölf Monate. Und auf diesen Tag, an dem die Augen- ärztin ihr sagt: „Hol ihn ab. Und komm her.“ Der Satz ist wie in Stein gemeißelt. Und er löst eine Erfahrung aus, die die Familie in Angst versetzt. Sie aber auch stärker macht. Carolins und Dirks Beziehung ist enger geworden. Beide wissen, dieses Jahr gehört zu unserem Leben. Und wenn sie sich das auch nie vorgestellt haben, ist es heute gut so wie es ist. Und als sie aus Essen hören, dass Henrys Erkrankung nicht genetisch bedingt ist – fällt ihnen ein Stein vom Herzen.

Das Interview führte Sabine Kuenzel für die KAKS.

28.12.2018 | Stories