Markus Holdt

Datum: 09.04.2015 | Kategorie(n): Team

Die Augenheilkunde umfasst trotzt kleinem Organ ein sehr unterschiedliches Spektrum an verschiedensten Erkrankungen. Beim Retinoblastom war die Trias Auge – Kind – Tumor so fesselnd, dass ich mich seit 2006 damit intensiver beschäftigte und in der Uni-Augenklinik Essen viel Erfahrung und Kompetenz erfahren durfte. Die KAKS ist für mich die ideale Ergänzung zur medizinischen Arbeit in Bezug auf Information, Förderung von wissenschaftlichen und klinischen Projekten und Unterstützung der betroffenen Familien. Man trifft auf sehr bereichernde Menschen in diesem Umfeld. Das macht die ehrenamtliche Arbeit so wertvoll.

Das Interview

2014 ist Markus Holdt in die Schweiz gegangen. Der Arzt, der in Essen die Kinder und Familien viele Jahre betreut hat. Klar, dass die KinderAugenkrebsStiftung ihn nicht ziehen lässt ohne einen Blick zurück.

Herr Holdt, Sie gehen mit einem lachenden und einem weinenden Auge – warum?

Einerseits freue ich mich wirklich sehr auf die neue Herausforderung: In einem für Ärzte angeblich so guten Gesundheitssystem wie in der Schweiz zu arbeiten und gleichzeitig den Einklang mit dem Familienleben zu schaffen – darauf freue ich mich. Auch darauf, in die Rolle des Ausländers zu schlüpfen, dadurch eine andere Mentalität besser kennen zu lernen und mich neu zu definieren. Andererseits hat mich die Arbeit in Essen enorm bereichert. Zudem habe ich in den letzten Jahren sehr viele Menschen in Essen in allen Bereichen ungemein schätzen gelernt. Sowohl privat als auch im Kollegenkreis und unter den Patienten mit ihren Familien. Es wird kein rundum leichter Abschied sein. Die letzten zehneinhalb Jahre in Essen waren eine sehr wertvolle Zeit.

 

Was war das Besondere an Ihrer Arbeit hier in Essen?

Ich habe erst während des Medizinstudiums in Freiburg für mich verstanden, dass die Augenheilkunde mit ihrer teiloperativen und auf ein Organ bezogenen Ausrichtung die interessanteste Disziplin für mich ist. 2003 dann hat mich das Bewerbungsgespräch mit Prof. Bornfeld sehr beeindruckt. Die spezielle Ausrichtung auf die Onkologie in der Augenheilkunde wird an keiner anderen Uniklinik in dem Ausmaß und der Qualität praktiziert.

Als ich im Sommer 2006 als Assistenzarzt auf die Kinderstation A1 kam, wurde die Trias “Kinder – Auge – Krebs” für mich zur inhaltlich motivierendsten Aufgabe. Sicher spielte meine private Situation eine bedeutende Rolle, da ich im Oktober 2006 zum ersten Mal Vater wurde.

 

Was ist die besondere Herausforderung an einen Arzt – an Sie – beim Retinoblastom?

Betrachtet man das Thema Retinoblastom aus kinderonkologischer Sicht, ist es eine sehr gut behandelbare Erkrankung. Die Überlebensrate in Deutschland liegt bei über 97 %, in Afrika nur bei etwa 30 %.

Aus augenärztlicher Sicht ist das ausgewogene Mass zwischen onkologischer Betrachtung und dem besten augenärztlichen Ergebnis entscheidend. Zunächst gilt es bei jedem neu diagnostizierten Kind, eine angemessene Entscheidung in der Retinoblastomkonferenz zu erarbeiten, um die Behandlungsziele zu erreichen. Dazu vernetzen wir uns mit Kinderärzten, den Strahlentherapeuten, mit Radiologen, den Genetikern und bei Bedarf Narkoseärzten, Pathologen, Neurochirurgen und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen. Dabei geht es an erster Stelle darum, das Leben der Kinder zu retten und dabei das Zweittumorrisiko möglichst gering zu halten. An zweiter Stelle geht es um den Augenerhalt und an dritter um die bestmögliche Sehfunktion. All das stellt eine besondere Herausforderung dar, denn es gilt auf vielen verschiedenen Ebenen abzuwägen und zu entscheiden.

Zudem ist abseits des Klinikalltages die Früherkennung viel zu lange nicht gefördert worden. Ich habe mich dort gerne als Arzt und als Kuratoriumsmitglied der KAKS eingebracht. Gerade die Informationskampagne “Weiß sehen”, die abgeschlossene Forschungsarbeit zur Ersterkennung und andere Projekte der KAKS treffen genau ins Schwarze. Aber von diesen guten Maßnahmen braucht es weitere um hoffentlich irgendwann im Klinikalltag den gewünschten Bumerang aufzufangen. Das Ziel bleibt auch hier: die Familien mit einem Verdacht müssen wesentlich früher den Weg in eine spezialisierte Einrichtung wie der Uniklinik Essen finden.

Aus meiner persönlichen Sicht aber ist die wichtigste Aufgabe des Augenarztes, den Familien in dieser außergewöhnlichen Belastungssituation der angemessene Ansprechpartner zu sein. Es wirkt sich auch auf die betroffenen Kinder positiv aus, wenn Familien in dieser unvermeidlichen Situation mit der Zeit die Orientierungslosigkeit überwinden und besser ins ungewohnte, nun alltägliche Fahrwasser kommen. Dabei kann ein Augenarzt natürlich nur im Rahmen seiner Möglichkeiten zur Seite stehen.

 

Erinnern Sie sich an Ihren ersten kleinen RB Patienten?

Noch vor meiner eigentlichen Zeit als Stationsarzt habe ich vertretungsweise bereits 2005 auf der Kinderstation A1 für ein paar Wochen gearbeitet. Damals kam ein Junge aus einer norddeutschen Universitätsstadt zur Erstvorstellung nach Essen. Im ersten Gespräch konnte ich die Erläuterungen des Vaters kaum glauben. Diese Geschichte klang so absurd: von einer Augenarzt-Praxis wurde eine Abklebebehandlung bei einem kleinen Jungen empfohlen. Erst nach Monaten stellte sich heraus, dass in beiden Augen bereits ein fortgeschrittenes Retinoblastom vorlag. Leider zeigte direkt der erste Kontakt mit diesem Retinoblastom-Kind die nur schwer nachvollziehbare Ambivalenz dieser Erkrankung zwischen der enormen Tragweite einer Krebserkrankung und den zu oft inadäquaten ersten ärztlichen Massnahmen. Bis heute haben die wiederkehrenden Untersuchungen dieses Jungen für mich persönlich einen besonderen Stellenwert gehabt.

 

Hat diese Arbeit Sie verändert, als Arzt, als Mensch?

Sicher hat diese Arbeit mich verändert. Es fällt mir nicht leicht, dies genau von anderen Faktoren abzugrenzen. Vielleicht kann ich behaupten, dass die Arbeit mich als verantwortlichen Arzt und als Mensch insofern hat reifen lassen, da ich über den Tellerrand eines Augenarztes hinaus schauen und die gesamtgesundheitlichen Aspekte immer zuerst berücksichtigen musste. Das gilt für die Retinoblastom-Betreuung aus meiner Sicht mehr als bei jedem anderen Krankheitsbild in der Augenheilkunde.

 

Gibt es Menschen, die Ihnen in dieser Zeit begegnet sind, die besonders beeindruckt haben?

Es gibt so viele beeindruckende Momente in den letzten Jahren. Am ergreifendsten sind die Familien oder auch betroffenen Kinder, die mit ihrer Belastung wie mit einer lohnenswerten Aufgabe umgehen und vorbildliche Bewältigungsstrategien entwickeln konnten. Egal ob es um das Thema Blindheit, Augenentfernung, Zweittumore oder einfach nur die Diagnose Retinoblastom ging – ob als Familie oder allein erziehender Erwachsener – es ist wunderbar zu beobachten, wie Menschen an ihrer Herausforderung wachsen und damit umgehen. Mich beeindruckt nach wie vor eine Familie, deren Kind leider verstarb und der Kinderstation A1 immer noch zu bestimmten Anlässen wie Weihnachten in treuer Verbundenheit Post sendet. Diese Schicksale sind wiederum für mich als inzwischen zweifacher Vater enorm ergreifend. 

Zu Beginn meiner Arbeit war es für mich absolut unverständlich, wie vom Retinoblastom betroffene Eltern dem Kinderwunsch nachgehen und sich der Verantwortung aussetzen, für Nachkommen mit familiärer Mutation die oft beschwerliche Behandlungszeit durchzustehen, auch im Hinblick auf die mit der Pubertät aufkommenden Diskussionen. Auch hier habe ich für mich einen Lernprozess erfahren dürfen, der mir bei diesen Kindern ganz klar zeigt: jeder Augenblick, in dem das Kind, wenn auch unbewusst Glück und Liebe empfindet, lässt jeden zweifelnden Gedanken, ob es die richtige familiäre Entscheidung war, absurd werden.

 

Wie reagieren die Familien auf Ihren Weggang?

Sehr unterschiedlich: manche sind bestürzt, sprachlos, viele haben mich beschenkt, mir teilweise sehr berührende Briefe geschrieben. Viele Eltern reagieren auch verständnisvoll und wünschen ein gutes Miteinander von Beruf und Familie in der Schweiz.

 

Was sagen Sie Ihnen?

Ich wünsche mir vor allem, dass die Eltern ihr Vertrauen, dass sie mir persönlich entgegen gebracht haben, in die Institution Uniklinik Essen übertragen. Meine von mir sehr geschätzten Kollegen wie Frau Dr. Biewald, Frau Dr. Metz, Frau Dr. Deike und andere mehr werden in Zukunft davon zeugen, dass die Retinoblastombetreuung in der Augenklinik keine “One-Man-Show” war, sondern wir uns gegenseitig sehr kollegial aber auch kritisch und konstruktiv ergänzt haben. Für manche Eltern wird meine Person vielleicht fehlen, aber die Zuwendung und die gute Betreuung wird bleiben. Dafür allein steht ja schon das Pflegeteam der Station A1 mit der Erzieherin Frau Wibbe und den Sekretärinnen Frau Augusto und Frau Weiser. Das wünsche ich mir für die Familien am meisten. Die medizinische Expertise im Team von Prof. Bornfeld steht für sich selbst und ist die Beste in ganz Deutschland.

 

Sie gehen in die Schweiz. Warum?

Ich habe in Freiburg Medizin studiert, das Praktische Jahr des Studiums unter anderem auch in der Schweiz absolviert. Aus dieser Zeit sind mir viele Freundschaften in der deutschsprachigen Schweiz geblieben. Eines meiner Patenkinder lebt bei Basel, der Patenonkel meines Sohnes lebt auf der deutschen Seite des Bodensees in Wangen im Allgäu, ebenso wie meine Verwandten im Kanton Bern und am Bodensee. Diese Region war für mich schon immer wie meine zweite Heimat, nach meiner Geburtsstadt Düsseldorf und Essen als Heimat meiner Frau und unserer Familie. Am entscheidensten aber waren die wirklich faszinierenden Gespräche mit meinen zukünftigen Arbeitgebern. So viel Sympathie, Übereinstimmung und gegenseitiges Entgegenkommen haben ihren ganz eigenen Stellenwert. Ich bin gespannt, wie viel davon im Berufsalltag bestehen bleiben wird.

 

Was wird nun die besondere Herausforderung?

Dieser Umzug bedeutet für mich persönlich erst einmal die Rolle als niedergelassener Augenarzt mit Qualität darzustellen. Zudem bin ich Ausländer in einem Land, das erst kürzlich mit der Volksabstimmung gezeigt hat, wie kritisch Ausländer, insbesondere Deutsche in der Schweiz gesehen werden. Es gilt in den nächsten Monaten herauszufinden, ob diese Entscheidung gerade auch für den Nachzug meiner Familie in naher Zukunft die richtige Entscheidung gewesen ist. Wir fühlen uns in Essen sehr wohl und müssen hier nicht weg ziehen. Gleichwohl lockt diese Herausforderung meine Frau und mich, gerade auch an einem neuen Wohnort sich als Familie neu definieren zu können.

 

Bleiben Sie dem Thema auf irgendeine Weise verbunden?

Ich habe allen Eltern in den letzten Wochen vor meinem Weggang gesagt, wie sehr ich mich freuen würde, wenn es ein Wiedersehen zum Retinoblastom-Treffen im Juni in meiner Heimatstadt Düsseldorf gäbe. Ich möchte weiterhin der KinderAugenkrebsStiftung als Kuratoriumsmitglied und quasi ‘KAKS-Botschafter’ in der Schweiz verbunden bleiben. Dieses Thema und die wundervolle Stiftung mit ihren vielen blühenden Zweigen bieten ein immer vitaler werdendes Betätigungsfeld. Ich freue mich darauf, dem Thema und den Familien so verbunden zu bleiben!

Das Interview führte Monika König.

09.04.2015 | Team