Mr. X

Datum: 01.09.2010 | Kategorie(n): Mutmacher, Team

Er ist 50 Jahre alt und lebt seit 49 Jahren mit einem Glasauge. Glücklich. “Das Leben hat nicht immer zwei Seiten”, sagt er, aber benachteiligt fühlt er sich deswegen nicht. Die KinderAugenKrebsStiftung dankt einem Mann, bei dem mit einem Jahr ein Retinoblastom diagnostiziert wurde, für einen sehr persönlichen, wunderbaren Bericht über das Leben mit einem Glasauge.

Das Leben hat nicht immer 2 Seiten….

Heute mit 46 Jahren blicke ich mit einem Lächeln auf mein Leben, welches ich bisher mit nur einem funktionierenden Auge durchschritten habe.

Per Zufall wurde vor 45 Jahren durch meine Tante ein Fleck in der Iris entdeckt und Dank des richtigen Arztes kam ich schnell in das Klinikum Essen. Dort diagnostizierte man ein schnell wachsendes Retinoblastom, welches sich in beide Richtungen, also auch in Richtung Seenerv weiterentwickelt. Innerhalb von einem Tag wurde mir mein linkes Auge entfernt und ich lebte fortan mit einem Glasauge.

Das erste Mal wurde mir diese Behinderung mit fünf Jahren bewusst auf Basis eines Fotos. Ich blickte darauf von unten nach oben und mir fiel die Ungleichstellung der Augen auf. Meine Mutter erklärte mir bestmöglich die Lage und ich war damit zufrieden, ohne es eigentlich richtig verstehen zu können. Meine Augen bewegten sich anders als bei anderen Kindern, dies war mir klar, aber da sich auch mein Glasauge ein bisschen durch die verbleibende Muskulatur bewegte, fiel das niemanden richtig auf und man akzeptierte den „Silberblick“.

Wahrscheinlich war das das Beste was mir passieren konnte, denn ich fühlte mich damals zu keiner Zeit benachteiligt oder gar behindert. Insbesondere im Sport probierte ich im Laufe meiner Schulzeit alles aus, je gefährlicher desto besser. Mir ging es immer um die Ehrenurkunde und den Erfolg. Insbesondere Ballsportarten hatten es mir angetan. Ich spielte seit meinem siebten Lebensjahr mit großem Interesse Tennis und Handball und habe nie das Gefühl gehabt einen Ball nicht treffen oder fangen zu können.

Meine Mannschaftskollegen nahmen die Behinderung nie bewusst wahr und so wurde ich mit allen Rechten und Pflichten in das Team eingebunden. Extrawürste gab es nie – warum auch.

Unbewusst hatte ich gelernt meine Mangel an dreidimensionalem Sehen auszugleichen. Mein Gehirn kompensiert das in einer Form, die mich heute noch fasziniert. Technisch gesehen müsste ich die Umwelt wie ein Foto vor mir sehen aber das ist nicht so. Selbst 3D Filme schaue ich mir gerne an, allerdings brauche ich diese alberne Brille nur um die Schatten des Filmes zu entfernen.

Allerdings musste ich bei einem Abendessen, welches meine Eltern für Freunde gaben, doch mal die Grenzen meiner „Physik“ kennenlernen. Wir Kinder waren zur Bedienung abgestellt und ich sollte Wein nachschenken. Ich fühlte mich als Achtjähriger schon etwas unwohl mit der Aufgabe, lies mir jedoch nichts anmerken und goss fleißig nach. Es kam aber, wie es kommen musste und ich vergoss natürlich bei einer Dame den Wein, da ich nicht mit der Erfahrung von heute das Glas einschenken konnte. Die darauffolgende Kettenreaktion, Umfallen des Glases etc., lies mich beschämt den Raum verlassen. Nie wieder wollte ich so etwas. Heute nutze ich entweder die Schatten von Glas und Flasche um zu „treffen“ oder ich lege entgegen der Etikette den Flaschenhals kurz auf dem Glas auf. Die meisten bemerken das nicht einmal.

Mit 13 Jahren kam ich aufgrund der Trennung meiner Eltern ins Internat. Fortan öffnete sich die Sportwelt für mich erst richtig und ich lernte auch ein gewisses handwerkliches Geschick in mir kennen. Volleyball und Hockey, Squash sowie das Skifahren wurden jedoch sportlich gesehen meine Favoriten. Ich war ein durchschnittlicher Schüler, nicht richtig gut aber auch nicht richtig schlecht. Doch beim Sport war ich herausragend und versuchte, ehrgeizig wie ich war – und bin – immer der Beste zu sein. Ich lernte durch Intuition und Abschauen bei den Besseren und brachte es damit zum Schulmeister in verschiedenen Disziplinen. Gleichzeitig half mir mein extrem scharfes Sehen bei diffizilem Arbeiten wie Modellbau oder Sonstigem.

Während der Pubertät wurde auch das andere Geschlecht für mich immer wichtiger. Anfangs habe ich es noch verdrängt bzw. durch den Sport kompensiert, doch mit 15 Jahren kam mit der ersten Freundin dann doch das offensichtliche Interesse. Aber etwas wurde anders. Ich begann mich zu schämen für mein fehlendes Auge. Ich ertappte mich, wie ich versuchte starr geradeauszublicken bei Gesprächen bzw. den Kopf zu drehen anstatt der Augen. Die typischen Fragestellungen von wegen „warum ich“ begannen in mir laut zu werden. In der Gemeinschaft war ich zwar anerkannt aber irgendwie auch ein Einzelgänger. Lag das an mir oder an meinem Glasauge. Den einen oder anderen Kommentar überging ich zwar mit gespielter Souveränität aber irgendwie wurmte mich die Situation. Meine damalige Freundin hat nie auch nur ein Wortdarüber verloren.

Neben dem Sport, welcher für mich immer noch den interessantesten Teil im Internat ausmachte, wurde ich mehr und mehr in die Verantwortung für jüngere Schüler gezogen. Dies betraf einerseits die Tutorenschaft auf dem Internatsflügel, wie aber auch Verantwortung in sogenannten Diensten. Da ich nebenbei auch mit dem Surfen begonnen hatte und damit meine Segelkenntnisse aus der der frühen Kindheit wieder auffrischte, wurde mir schnell der Nautikdienst anvertraut. Die Ausbildung und das Führen dieser Gruppe machte mir viel Spaß. Ich liebte das Wasser, genoss auf der einen Seite die Entwicklung der Mitschüler beim Segeln – auf der anderen Seite bemerkte ich aber auch eine gewisse Genugtuung in dem Führungsanspruch, welchen der Dienst unweigerlich mit sich brachte. Innerhalb kurzer Zeigt legte ich alle möglichen Segelscheine ab vom A-Schein bis hin zum Sportbootführerschein und BR-Schein. Leider holte mich hier meine „Behinderung“ ein wenig ein, da ich nicht zum Ziehen von Wasserskifahrern zugelassen wurde. Es gibt schlimmeres und außerdem hänge ich viel lieber hinten dran und schlitze die Wellen…

Nach einem Auslandsjahr in Canada begann ich in der zwölften Klasse aktiv mit dem Geräteturnen. Wir waren eine eingeschworene Jungentruppe, alle mehr oder minder talentiert, aber mit großen Enthusiasmus und einem Schleifer als Lehrer ausgestattet. Er hatte die Fähigkeiten mich „bis aufs Blut“ zu reizen und zu trainieren. Da ich ohnehin, evt. bedingt durch meine Einäugigkeit, einen starken Ehrgeiz besaß besser zu sein als die anderen, trieb er mich zu wahrer Höchstleistung. Dies betraf sowohl meine physische Fähigkeiten wie aber auch meine mentale Stärke zu jener Zeit. Auf der physischen Seite war Koordination dabei für mich keine Komponente des Sehens, sondern der Körperbeherrschung und so zog ich die Übungen an Barren, Reck, den Ringen und am Boden gnadenlos durch.

Neben dem Geräteturnen war Squash eine meiner besonderen Lieblingssportarten. Hier konnte ich in kurzer Zeit mich völlig verausgaben und außerdem meinem Gegner mental testen. Diese Situationen liebte ich. Vor allem durch schnelles Kopfdrehen kompensierte ich die fehlenden visuellen Winkel. Natürlich war dies ein Spiel mit dem Feuer da ich keinen Augenschutz trug. Mir war das Risiko bewusst aber wie so oft wurde er vom Ehrgeiz besiegt. Während des gesamten Studiums blieb ich diesem Sport treu und erst nach deutlichen Verschleißerscheinungen im Rücken zog ich mich davon zurück. Seitdem halten mich meine „alten“ Lieblingssportarten aus der Kindheit nämlich Skifahren im Winter, Windsurfen und Segeln im Sommer sowie ausreichend Fitnesstraining in Schwung. Insbesondere beim Skifahren bemerke ich, dass ich mich mehr und mehr neben dem Sehen auch stark auf das Hören verlasse und vornehmlich den linken Rand der Piste suche, falls man mich nicht irgendwo zwischen den Bäumen im Tiefschnee findet. Snowboardfahren wurde dabei zu einer besonderen Herausforderung, da ich einen gewissen toten Winkel nicht umgehen kann. Da ich darauf nicht verzichten wollte, fuhr ich möglichst antizyklisch um freie Pisten zu haben und das Carven zu genießen.

Natürlich war ich als junger Kerl auch Autofan. Ich fuhr seit meinem sechzehnten Lebensjahr Mokick und legte meinen Autoführerschein zu Abiturszeiten ohne irgendwelche Beanstandungen ab. Das Abschätzen von Entfernungen bereitet mir keinerlei Schwierigkeiten und durch meine gute Reaktionszeit bin ich bis heute unfallfrei gefahren. Mein Hang zur Geschwindigkeit wurde mir allmählich durch „Flensburg“ genommen und ich denke heute ein einigermaßen defensiver Fahrer zu sein (Meine Frau denkt wahrscheinlich anders…). Der Schulterblick fällt etwas intensiver aus als bei anderen Fahrern und ich bemerke eine häufige Nutzung aller Spiegel. Insgesamt aber kompensiere ich auch hier mein fehlendes räumliches Sehen „irgendwie“ und einzig bei starkem Schneefall bzw. Regen fühle ich mich unwohl im Auto.

Das „Treibhaus“ Internat endete mit einem exzellenten Sportabitur und einem sonstigen „befriedigend“ im Abitur. Meine Prioritäten waren also klar verteilt. Danach ging es nach mehreren Praktika zum Studium an die Uni nach München. Das Studium war anfangs wenig balanciert zwischen ernsthaftem Studieren und nachhaltigem Feiern und ich kippte immer wieder auf die Feierseite. Zusammen mit meinem auch heute noch besten Freund zogen wir in eine legendäre Wohnung und genossen das Studentenleben aus vollen Zügen. Ganz allmählich begriff ich dann aber auch den „Ernst des Lebens“: ich hörte zwar nicht auf zu feiern bzw. Sport zu treiben aber allmählich wurde mir der Ernst des Lebens etwas bewusster. Wir unternahmen zwar weiterhin Surfreisen bzw. trieben Sport aber alles ein wenig fokussierter Richtung Studiumserfolg. Dabei wurde meine Freundin allmählich mein ständiger Begleiter und trieb mich in die richtige Richtung. Sie gab mir Halt und Selbstvertrauen und versuchte mich vor allzu großen Dummheiten zurückzuhalten. Sie akzeptierte mich wie ich bin mit all meinen Fehlern und offenbarte mir eine gewisse Achtsamkeit mit dem Augenlicht. Der Gang zum Augenarzt sowie nach Wiesbaden zu Augen Müller&Söhne wurde so wieder etwas regelmäßiger als vorher. Sie ist heute seit fast 24 Jahren meine Frau und die Mutter meiner beiden Söhne. Beide Kinder wurden jeweils extrem häufig in der Uniklinik Essen auf das Retinoblastom untersucht, da wir kein Risiko eingehen wollten. Dies war natürlich mit erheblichen Mühen verbunden, da Säuglinge nüchtern nicht gerne von München nach Düsseldorf fliegen, geschweige denn auch noch den gesamten Vormittag ruhig halten. Sie wurden, wie ich damals, in Vollnarkosen untersucht. Sie waren und sind frei von jeglichem Befund. Daran wird sich wohl jetzt mit sechzehn und zwanzig Jahren hoffentlich nichts mehr ändern. Die Vorsorge jedenfalls ist seit Jahren abgeschlossen. Mein Tumor existiert physisch noch – wurde allerdings in Formalin fixiert, sodass bei der genetischen Untersuchung nicht mit Sicherheit eine Erblichkeit ausgeschlossen werden konnte.

Nach dem Prädikatsexamen zog es mich in eine große Beratung und durch meine Qualifikation sowohl auf technischer wie auch wirtschaftlicher Seite wurde die Logistik meine Bereich. Auch hier war mein Ehrgeiz wieder die Triebfeder und innerhalb von acht Jahren wurde ich vom kleinen Berater zum Vizepräsidenten. Die hohe Mobilität und vor allem das häufige Fliegen und die damit verbundene schlechte Luft reizen meine Augen ungemein. Ich habe eine fast chronische Bindehautentzündung und Augentropfen sind ständige Begleiter. Da ich nicht übermäßig sorgsam mit der Reinigung des Glasauges umgehe, es praktisch nie herausnehme und da eine schnelles Reiben mit der Handfläche das antiseptische, fusselfreie Tuch ersetzt, muss ich mit gewissen Reizungen leben. Meiner Eitelkeit bemerkt das minimale Absinken des Lides über dem Auge, wenn ich müde werde. Dies trat und tritt vor allem abends auf und ist dem fehlenden Tränenfilm geschuldet, den ich mit künstlichen Tränen von Zeit zu Zeit bekämpfe. Zusätzlich werde ich nicht jünger und habe mir erst vor kurzem die erste Brille meines Lebens für die kommende Altersweitsichtigkeit anschafft (abgesehen von ca. 100 Sonnenbrillen, die ich in jeder Form liebe..)

Heute mit 50 Jahren blicke ich mit einem Lächeln auf mein Leben zurück und danke Gott, meiner Tante und den Ärzten das sie mir das Augenlicht erhalten haben, denn ich liebe das Leben. Benachteiligt? Ich glaube nicht!

01.09.2010 | Mutmacher, Team